Die ALL ist eine Krebserkrankung des Knochenmarks – dem Gewebe im menschlichen Körper, das die Blutzellen bildet. Erkrankt ein Patient an ALL, kommt es zur unkontrollierten Vermehrung unreifer weißer Blutzellen, die ohne Therapie rasch zum Tod führt. Behandelt wird die ALL in der Regel mittels einer zweijährigen Chemotherapie, die sich in vier essentielle Phasen gliedert:
1) die Induktionstherapie, die darauf abzielt im Zeitraum von etwa vier Wochen die Leukämie komplett unter die mikroskopische Nachweisgrenze im Knochenmark zurückzudrängen;
2) Konsolidierungs- bzw. Intensivierungselemente, die durch Behandlung mit weiteren Chemotherapeutika den Erfolg der Induktionstherapie festigen sollen;
3) die Behandlung von Leukämiezellen in Gehirn und Rückenmark, also im zentralen Nervensystem (ZNS), mittels einer ZNS-gerichteten Therapie; und
4) der sogenannten Dauer- oder Erhaltungstherapie, bei der durch eine langgestreckte und weniger intensive Verabreichung von Chemotherapeutika nach der intensiven Anfangstherapie noch im Körper verbliebene Leukämiezellen abgetötet werden sollen. In kleinen Patientengruppen werden zur Erhöhung der Chancen auf einen erfolgreichen Therapieabschluss die vier Therapiephasen durch eine Schädelbestrahlung oder auch eine Knochenmarktransplantation ergänzt.
Ein Großteil der im Rahmen der ALL-Therapie eingesetzten Medikamente hat seine behördliche Zulassung bereits in den 1950er oder 1960er Jahren erhalten. Trotz zum Großteil gleichbleibender Präparate, konnte seit Ende der 1960er Jahre ein stetiger Anstieg des Überlebens in den seit dieser Zeit durchgeführten Therapieoptimierungsstudien verzeichnet werden. Mit heutigen Behandlungsprotokollen können über 85% der ALL-Patienten dauerhaft geheilt werden. Der in den letzten 20 Jahren erreichte Anstieg des Überlebens beruht dabei insbesondere auf einer Anpassung der Therapieintensität an das Rückfallrisiko eines Patienten, was durch die Erfassung prognostischer Faktoren erfolgt.
Prognostischen Faktoren sind zum einen verschiedene Eigenschaften von Leukämiezellen, wie beispielsweise das Vorhandensein bestimmter genetischer Veränderungen in den Leukämiezellen oder ein ZNS-Befall der Leukämie, zum anderen aber auch Wirtsfaktoren. Wirtsfaktoren sind Charakteristika des Patienten, die nicht direkt mit der Leukämie zusammenhängen – wie etwa das Geschlecht des Patienten oder bestimmte ererbte Eigenschaften, die die Verstoffwechslung von Medikamenten beeinflussen. Patienten mit einem ungünstigen Profil an prognostischen Faktoren bekommen eine besonders intensive Therapie, während solche mit günstigen prognostischen Faktoren eine mildere Therapie erhalten und somit auch weniger häufig gefährlichen Therapienebenwirkungen ausgesetzt sind.
Ein Schwerpunkt der kooperativen Forschungsarbeiten in Hannover und Kiel ist die Suche nach neuen prognostischen Faktoren, mit denen die Risikoanpassung der Behandlung weiter verfeinert werden kann. Diese Arbeiten konzentrieren sich sowohl auf Eigenschaften der Leukämiezelle als auch auf Merkmale des Patienten, also auf Wirtsfaktoren. Diesbezüglich werden aufwändige Untersuchungen durchgeführt, bei denen teilweise auch das gesamte Erbgut analysiert wird.
Mehrere Ergebnisse dieser Forschungsaktivitäten haben es in die klinische Praxis geschafft – nicht nur auf lokaler, sondern auf globaler Ebene. Ein Beispiel ist die Entwicklung eines neuen Risikomerkmals für die ALL, das aktuell in der Praxis genutzt wird, um die Intensität der Behandlung zu steuern. Dieses Merkmal heißt “Ikaros plus“ und birgt – bei positivem Test – ein sehr hohes Rückfallrisiko (mehr als 50%). Der Test fällt nur bei 5% der Patienten positiv aus, sagt aber ein Viertel aller Rückfälle voraus. Wenn Ikaros plus bei einem Patienten nachweisbar ist, wird eine intensive Hochrisikobehandlung durchgeführt und eine frühe Immuntherapie randomisiert getestet. Das Ikaros plus-Muster ist derzeit der stärkste breit anwendbare Test zur Vorhersage eines Rückfalls der ALL und hat sich zu einem diagnostischen Standard in der größten europäischen klinischen Studie zur Behandlung der pädiatrischen ALL entwickelt, an der jährlich etwa 1000 Patienten teilnehmen.
Ein weiteres früheres Beispiel für die Übertragung biologischer Forschung in die klinische Anwendung stammt aus einer Studie zur Entschlüsselung des Genoms eines bislang unheilbaren, sehr seltenen Subtyps von ALL – der sogenannten TCF3-HLF-rearrangierten ALL. Das Zusammenspiel zwischen der fehlerhaften Fusion von TCF3 und HLF löst eine bisher unterschätzte Umprogrammierung der Leukämiezellen auf ein sehr frühes, stammzellähnliches Entwicklungsstadium aus – eine Art „Wolf im Schafspelz“. In diesem großen kooperativen Projekt mehrerer universitärer Zentren in Deutschland und der Schweiz wurden auch neue Behandlungsoptionen mit Anti-Apoptose-Medikamenten identifiziert, die derzeit klinisch evaluiert werden.
Größte Herausforderung für die nächsten zehn Jahre in der ALL-Forschung bleiben weiterhin:
1) Verfeinerung der ALL-Diagnostik und der Risikoklassifizierung und
2) eine präzisere Anpassung therapeutischer Ansätze unter Berücksichtigung der Leukämiebiologie und der Wirtsfaktoren der Patienten.